SO GRABEN DIE FOLGEN EINES BSG-URTEILS VERTRAGÄRZTLICHEN MVZ DAS WASSER AB
Bestimmungsmächtige ärztliche Gesellschafter können sich nach einem BSG-Urteil im eigenen Praxisunternehmen nicht mehr anstellen lassen. Seither sind ärztliche MVZ-Gründungen dramatisch eingebrochen. Zudem ist der Generationenwechsel in diesen MVZ jetzt noch komplizierter geworden.
Das Urteil kam überraschend – und seine Auswirkungen sind bis heute noch nicht vollständig abzusehen: Ende Januar 2022 entschied das Bundessozialgericht (BSG), dass „die Anstellung eines Arztes in einem Medizinischen Versorgungszentrum nur genehmigt werden kann, wenn der Arzt dort eine abhängige Beschäftigung und keine selbstständige Tätigkeit ausübt“. So der Leitsatz des Urteils (Az.: B 6 KA 2/21 R).
Als entscheidendes Merkmal abhängiger Beschäftigung sei die fehlende Rechtsmacht anzusehen, die eigene Weisungsgebundenheit als Angestellter aufzuheben. Umgekehrt heißt es in der Urteilsbegründung: „Wenn Gesellschafter kraft ihrer gesellschaftsrechtlichen Position auch die Leitungsmacht gegenüber der Geschäftsführung haben, unterliegen sie nicht mehr deren Weisungsrecht.“ Eine solche Rechtsmacht sei „in jedem Fall“ bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer gegeben, der mindestens 50 Prozent des Stammkapitals hält.
Perspektivwechsel auf abhängige Beschäftigung
Hinsichtlich seiner Rechtsprechung zur Anstellung im MVZ hat das Bundessozialgericht damit kurzerhand einen Perspektivwechsel vom vertragsarztrechtlichen auf einen sozialversicherungsrechtlichen Anstellungsbegriff im Bedeutungshorizont „nicht-selbstständiger Arbeit“ (§ 7 Abs. 1 SGB IV) vollzogen.
Im konkreten Fall bekam der Zulassungsausschuss Sachsen-Anhalts Recht, der die Anstellung zweier hälftig an einer MVZ-GbR beteiligten Internisten nicht genehmigen wollte. Der Sachverhalt trifft aber, worin sich Juristen einig sind, gleichermaßen auf eine MVZ-GmbH zu.
Nach 18 Jahren unbeanstandeter Übung geriet damit eine der häufigsten ärztlichen Gründungsvarianten ins Wanken: die Gründung einer MVZ-Trägergesellschaft unter Einbringung der bisherigen Praxis mit Verzicht auf die Vertragsarztzulassung zugunsten der Anstellung im eigenen MVZ.
Wobei nicht eigentlich die Anstellung im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern vielmehr die damit einhergehende Zulassungsübertragung an das MVZ, in deren Folge ein „Unternehmen Arztpraxis“ entsteht, das unabhängig von der Gründerperson und einer an diese gebundenen vertragsärztlichen Zulassung Bestand haben kann.
61 Prozent aller ärztlichen MVZ
Gemäß einer Problembeschreibung der KBV basierten Ende 2021 rund 29 Prozent (1.209) aller Versorgungszentren – respektive 61 Prozent aller MVZ in ärztlicher Trägerschaft – auf diesem Gründungsmodell und wurden ausschließlich mit angestellten Ärzten betrieben (siehe nachfolgende Grafik). Wobei von der BSG-Entscheidung tatsächlich noch weit mehr MVZ betroffen sein dürften, da, wie es in dem KBV-Papier weiter heißt, davon auszugehen sei, dass auch in „Misch-MVZ“ mit angestellten und Vertragsärzten Kollegen „tätig sind, die zugleich Gesellschafter mit gesellschaftsrechtlichen Einflussnahmemöglichkeiten sind, welche der Erteilung einer Anstellungsgenehmigung nach Auffassung des Bundessozialgerichts entgegenstehen“.
Folgen für den Generationenwechsel
Neben der ärztlichen MVZ-Gründung werde in Folge des BSG-Urteils aber vor allem auch die Anteilsübernahme durch bereits angestellte MVZ-Ärzte, also der Generationenwechsel, „entgegen dem gesetzgeberischen Willen leerlaufen“, prognostiziert die KBV. Jedenfalls immer dann, wenn ein Arzt seine Selbstständigkeit zumindest nur insoweit zugunsten einer Anstellung aufzugeben, oder aber aus der Anstellung in die Anteilseignerschaft zu wechseln bereit ist, wie er dennoch die Rechtsmacht be- oder erhalten kann, über die Geschicke seines Praxis-Unternehmens selbst zu bestimmen.
Eine derart rechtsmächtige Anteilsübernahme aus einem bestehenden Anstellungsverhältnis heraus wäre künftig schon der ersten Nachfolger-Generation nicht mehr möglich, ohne in den Vertragsarztstatus zurückwechseln zu müssen, da ansonsten das MVZ in einer rechtlich unzulässigen Form betrieben werden würde, die vom Bestandsschutz vermutlich nicht mehr gedeckt ist.
Ein-Mann-GmbH klinisch tot
In MVZ mit mehreren angestellten Partnern sind zwar Konstellationen denkbar, wie Anteile und unternehmerische Weisungsrechte so aufzuteilen wären, dass sich die Eigentümer gewissermaßen gegenseitig in Schach halten und keiner im Sinne der BSG-Vorgaben dominiert. Doch insbesondere bei ärztlichen Gründern habe bestimmender Einfluss nach wie vor einen hohen Stellenwert, betont der Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht, Johannes Kalläne. Sehr häufig gebe es deshalb Alleingesellschafter.
Die sogenannte „Ein-Mann-GmbH“, eine der ärztlicherseits „relevantesten Konstellationen“ im MVZ-Geschäft, sei nach dem BSG-Urteil für diese Praxisform nun aber „so gut wie gestorben“. Ärztliche MVZ-Gründungen ließen deshalb erkennbar nach. Auch bei den Zulassungsausschüssen herrsche Verunsicherung; dort sei „die Zurückhaltung generell groß“, überhaupt noch „Anstellungen bei gleichzeitiger Gesellschafterstellung in einer MVZ-GmbH zu genehmigen“, so Kalläne weiter. Im Zweifel würden entsprechende Anträge auch mit Hinweis auf die „unklare Rechtslage“ zurückgewiesen.
Schlechtere Karten bei der Bank
Zu den weiteren nachteiligen Folgen des BSG-Urteils zählt laut dem Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht Johannes Kalläne die Tatsache, dass Haupt- oder Alleingesellschafter jetzt gezwungen sind, als Vertragsärzte ihre Zulassung „im MVZ“ auszuüben und diese nicht mehr auf das MVZ übertragen können: „Mit der Folge, dass der MVZ-GmbH dann eine wesentliche Betriebsgrundlage fehlt und im Falle einer Finanzierung oder laufenden Darlehensbeziehung nicht als Sicherheit dienen kann.“ Zwar könne eine Vertragsarztzulassung für sich genommen nicht verpfändet werden. Ein MVZ mit eigener Zulassung sei jedoch besser zu verwerten und daher – jedenfalls aus Sicht der Bank – „werthaltiger“ und auch als Kreditbesicherung überzeugender.
Außerdem, so der Fachanwalt weiter, müsste bei Tod oder Berufsunfähigkeit eines alleinigen geschäftsführenden Gesellschafters jetzt „die Zulassung unabhängig vom MVZ ausgeschrieben und nachbesetzt werden, mit dem erheblichen Risiko, dass die Zulassung nicht auf das MVZ übertragen wird. Das MVZ würde dann auf Mietverträgen, Technik und Investitionskosten sitzen bleiben.“
Steuerlast ohne echten Verkauf
Darüber hinaus ergibt sich aus dem BSG-Urteil ein gravierender steuerlicher Nachteil für ärztliche MVZ-Gründer aus bereits bestehender Niederlassung: Bisher konnten sie ihren Betrieb umwandlungssteuerrechtlich neutral ins MVZ einbringen, in dem sie als Angestellte weiterarbeiten wollten, weil sie ihn „mit Haut und Haaren“ einbrachten – nämlich einschließlich der Zulassung, die an das MVZ überging und die auch nach Einschätzung der Finanzbehörden einen beträchtlichen immateriellen Wert darstellt.
Jetzt bekommen Medizinische Versorgungszentren solcher Gründer, die ihre Weisungsrechte als Alleineigentümer oder auch in gleichberechtigten Partnerschaften behalten wollen, für ihre Gesellschafter aber keine Anstellungsgenehmigung mehr. Folglich können diese ausschließlich als Vertragsärzte im MVZ weiterarbeiten.
Der Hamburger Fachanwalt für Medizinrecht Johannes Kalläne erklärt dazu: „Wenn ein Vertragsarzt im Rahmen der Umstrukturierung seiner Praxis in eine MVZ-GmbH nicht zugunsten einer Anstellung im MVZ auf seine Zulassung verzichten kann, sondern weiterhin Vertragsarzt bleiben muss, dann überträgt er wesentliche Betriebsgrundlagen eben nicht an die MVZ-GmbH.“ In der Konsequenz würden happige Steuern auf den Praxiswert fällig – „obwohl tatsächlich kein Kaufpreis gezahlt wird“. Dies sei ein weiterer gewichtiger Grund, warum ärztliche MVZ-Gründungen zusehends zum Erliegen kämen.
Praxisverkauf und Neugründungen „eingebrochen“
„Wir erleben eine nicht unerhebliche Frustration und die gleichzeitige Überlegung unternehmerisch denkender Ärzte, weiteres Wachstum dann eben mit einer ‚sicheren‘ MVZ-Gruppe zu generieren“, berichtet Johannes Kalläne, Fachanwalt für Medizinrecht aus Hamburg. Soll heißen: Praxisinhaber verkaufen lieber gleich an einen Investor, „als die Handlungsoptionen nach dem BSG-Urteil auszuloten, da eine gerichtliche Klärung mehrere Jahre dauern kann“.
Susanne Müller, Geschäftsführerin des Bundesverbands Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ), bestätigt, dass infolge der geschilderten Problematik schon „einige gründungswillige Ärzte aufgegeben“ hätten. „Die Unsicherheit ist so groß, dass davon auszugehen ist, dass die Gründungsstatistik der letzten 14 Monate einen echten Knick bei den Vertragsärzten zeigen wird“.
Was von der KBV aktuell bestätigt wird: Dort heißt es, Rückmeldungen aus sämtlichen KV-Bezirken ließen darauf schließen, dass sowohl ärztliche Neugründungen „komplett eingebrochen“ seien, als auch ärztliche Anteilsübernahmen, da „niemand in MVZ reingehen will, die in unzulässigen Strukturen betrieben werden und bei denen die Übernahme nicht genehmigt werden kann“.
"Die Unsicherheit ist groß. Es ist davon auszugehen, dass die Gründungsstatistik der letzten 14 Monate einen echten Knick bei den Vertragsärzten zeigen wird."
Susanne Müller, Geschäftsführerin des Bundesverbands Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ)
Reaktionen von KBV und Bundesärztekammer
Bereits unmittelbar nach Urteilsverkündung vor eineinhalb Jahren forderte die KBV, Berlin möge „zeitnah klarstellen“, dass eine „gleichzeitige Stellung als Angestellter und Gesellschafter des MVZ unabhängig von der Rechtsmacht als MVZ-Gesellschafter weiterhin zulässig ist“. Davon, dass diese Forderung in Berlin schon weithin vernommen worden wäre, kann keine Rede sein.
Geschäftsführerin des Bundesverbands Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ) Susanne Müller erklärt: „Leider wird in der Politik bisher allein in den Kategorien ‚Investor‘ und ‚Gründungsverhinderung‘ nachgedacht. Andere Aspekte des MVZ-Betriebs lassen sich da kaum platzieren“. Selbst die Bundesärztekammer, die Anfang Januar mit einem 12-Punkte-Katalog ihren Claim in Sachen MVZ-Regulation abgesteckt hatte, schenkt darin den doch eigentlich drängenden ärztlichen Fragen zur Anstellung eines Gesellschafter-Geschäftsführers keinerlei Beachtung.
Reaktion des Bundesgesundheitsministeriums
Auf Nachfrage der Ärzte Zeitung erklärte ein Sprecher, das Bundesgesundheitsministerium werde „im Anschluss an das Versorgungsgesetz I einen Entwurf zur Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für MVZ erarbeiten und sich in diesem Zusammenhang auch zu der Entscheidung (des BSG, Anm. d. Red.) positionieren.“ Wie diese Positionierung aussehen könnte, wird offengelassen. „Einen näheren Zeitplan“, wann sie erfolgen soll, könne man ebenfalls noch nicht mitteilen.
Dass es irgendeiner sozialrechtlichen Nachjustierung bedarf, scheint allerdings unausweichlich, wie Susanne Müller, Geschäftsführerin des Bundesverbands Medizinischer Versorgungszentren (BMVZ), verdeutlicht: „Wenn es den Vertragsärzten als Trägergruppe zusätzlich schwer gemacht wird, Medizinische Versorgungszentren zu gründen und zu betreiben, bleiben ja nur die nicht-ärztlichen Träger übrig. Das heißt, eine Nichtregulierung würde den erklärten Regierungszielen zuwiderlaufen.“
Die Auswirkungen der Entscheidung des Bundessozialgerichts zur unzulässigen Anstellungsgenehmigung für MVZ-Gesellschafter-Geschäftsführer „und die sich daraus ergebenden Gestaltungsmöglichkeiten“, heißt es aus dem Bundesgesundheitsministerium, würden „in der Praxis intensiv diskutiert“. Was aber offenbar ziemlich weit hinter den Kulissen geschieht. Denn coram publico dreht sich die Debatte um eine erneute MVZ-Regulation aktuell ausschließlich um die Beschneidung klinik-, respektive investorengeführter Versorgungszentren.
Position des Ärztebunds MEDI
Lediglich der Ärztebund MEDI hat im Kontext seiner Forderungen zur MVZ-Regulation vernehmlich auf das Problem hingewiesen und eine sozialrechtliche Rettung der bestimmungsmächtigen Gesellschafter-Anstellung angemahnt: Der einschlägige erste Absatz des Paragrafen 95 SGB V möge um die Formulierung ergänzt werden, dass eine Arzt-Anstellung im MVZ „unabhängig davon zulässig ist, ob im sozialversicherungsrechtlichen Sinne eine abhängige Beschäftigung vorliegt“.
Ob sich allerdings nach einer höchstrichterlichen Entscheidung so umstandslos zum vormaligen Zustand zurückfinden lässt, sei zumindest „fraglich“, räumt der MEDI-Vorsitzende Dr. Norbert Smetak ein. Gleichwie: „Sollte der Gesetzgeber im Sinne des BSG-Urteils bestehende Regelungen konkretisieren wollen, bleibt zu hoffen, dass dies zu transparenten und praktikablen Vorgaben führt.“
Darüber hinaus brennt die Frage nach dem Bestandsschutz auf den Nägeln. Smetak: „Wir gehen davon aus, dass es Bestandsschutz gibt, also bereits abgeschlossene Genehmigungsverfahren nicht wieder aufgenommen werden.“ Das hänge jedoch nicht zuletzt „von den Zulassungssausschüssen und möglichen Einsprüchen ab“. Hundertprozentig sicher ist sich der MEDI-Chef demnach nicht. Was den an Berlin zu adressierenden Klarstellungsbedarf nur ein weiteres Mal unterstreicht.
Ein Jurist der KBV erteilt auf Nachfrage die Auskunft, Entscheidungen der Zulassungsausschüsse ließen sich nach zweijährigem Bestand nicht mehr anfechten. Insofern bestehe für ältere Genehmigungen zur Anstellung eines Gesellschafter-Geschäftsführers – und damit wohl ebenso hinsichtlich des Generationenwechsels in diesen MVZ – Vertrauensschutz.
Zurück zur vorherigen Regelung?
Auch bei der obersten Kassenarztvertretung sähe man es eindeutig lieber, wenn sich die Koalitionäre dazu durchringen könnten, die ursprünglich praktizierte Anstellungsoption auch für Mehrheitsgesellschafter mit einem Federstrich gesetzlich wiederherzustellen. „Ein Viertel aller MVZ zu halten“, sei Begründung genug, „das so zu machen“, heißt es. Ärztlich geführte Versorgungszentren würden durch das BSG-Urteil, „das so niemand erwartet hatte, massiv benachteiligt“.
Bei der Gelegenheit könnte das Ministerium gleich noch ein weiteres Problem abräumen, das den Generationenwechsel in ärztlichen MVZ schon vor dem hier geschilderten Urteil zur Anstellung eines Gesellschafter-Geschäftsführers massiv erschwert hatte: Zwar können (laut § 95 Abs. 6 Satz 5 SGB V) angestellte MVZ-Ärzte von Gründern jederzeit Anteile übernehmen – und erben dann die Eigenschaft, MVZ-Träger zu sein; im Wortlaut der angeführten Stelle liegt bei ihnen „die Gründungsvoraussetzung weiterhin vor“. Doch schon bei der nächstfolgenden Anteilsweitergabe (an die „Enkel“) gilt das nicht mehr, weil die in erster Etappe übernehmenden „Söhne“ keine eigentlichen Gründer im Sinne des Gesetzes mehr sind.
Die MVZ-Anteilsübernahme von angestelltem Arzt zu angestelltem Arzt muss deshalb ab der zweiten Generation „aufwändig über den Zwischenschritt vorübergehender vertragsärztlicher Tätigkeit organisiert werden“. Was „unnötige Kosten und wirtschaftliche Risiken“ berge, wie es dazu in dem Rechtsgutachten „Stand und Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen zu medizinischen Versorgungszentren“ (Ladurner et al.) heißt, das Ende 2020 dem BMG vorgelegt wurde. Das Problem ist dort also hinlänglich bekannt.
Um diesen Webfehler im SGB V zu bereinigen, schlagen die Gutachter vor, kurzerhand auch in MVZ angestellte Ärzte ab einem gewissen Mindest-Tätigkeitsumfang in den Kreis der zulässigen MVZ-Träger (nach § 95 Abs. 1a SGB V) mit aufzunehmen.