Reformperspektiven
Von Florian Staeck
Berlin. Es steht nicht gut um die gesetzlichen Krankenkassen. Im vergangenen Jahr mussten die 95 Kassen ein Defizit von rund 6,2 Milliarden Euro verbuchen. Zugleich sind die Reserven in der GKV so gering wie noch nie. Anfang Januar waren die Finanzrücklagen GKV-weit auf 2,1 Milliarden Euro geschrumpft – das entspricht den Leistungsausgaben von zwei bis drei Tagen. Eigentlich sollten die Kassen eine Mindestrücklage von 0,2 Monatsausgaben vorhalten.
Kassenchefs wie der DAK-Vorstandsvorsitzende Andreas Storm sehen die reale Gefahr, dass es zu einem Domino-Effekt kommen könnte: Wenn „ein halbes Dutzend Krankenkassen mit deutlich über einer Million Versicherten“ in die Zahlungsunfähigkeit rutsche, könne das – ähnlich wie bei der Bankenkrise 2008/2009 – das GKV-System an den Rand des Zusammenbruchs bringen, warnte Storm in der Ärzte Zeitung.
Ein kurzfristiges Kostendämpfungs- und Sanierungspaket wäre genauso dringend wie der rasche Start von Strukturreformen, die erst langfristig Wirkung zeigen. Doch die Sondierer einer möglichen schwarz-roten Koalition haben dem Thema Gesundheit und Pflege in einem elfseitigen Papier nur drei dürre Zeilen gewidmet. Wo also anfangen? Die Ärzte Zeitung hat fünf Gesundheitsökonomen um Stellungnahme gebeten.
Die Fragen im Überblick
- Wie stabil ist die finanzielle Situation der GKV?
- Welche Bedeutung sollte Kostendämpfung als Teil eines größeren Reformpakets dabei haben?
- Welche Sofortmaßnahmen wären aus Ihrer Sicht vorrangig?
- Kann die Priorisierung von GKV-Leistungen eine Option sein? Entlang welcher Kriterien könnte diese erfolgen?
- Ist es realistisch, die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben insbesondere durch Wirtschaftswachstum zu schließen?
Wie stabil ist die finanzielle Situation der GKV?
Für Professor Dr. Boris Augurzky vom RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung ist die Lage „sehr ernst“. Zwar habe sich durch die massiven Beitragssatzanhebungen die Einnahmeseite der Kassen verbessert.
„Der Ausblick bleibt aber weiterhin düster“. Dabei verweist er auf Berechnungen, wonach die addierten Sozialabgaben bei einer Fortschreibung des Status quo bis 2035 auf über 50 Prozent steigen könnten.
Aus Sicht von Professor Dr. Jonas Schreyögg vom Institut für Management im Gesundheitswesen der Universität Hamburg ist die Finanzlage „so prekär wie seit Langem nicht“.
Das starke Wachstum der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten habe über viele Jahre zu einer „relativ komfortablen Finanzsituation“ geführt.
Doch nun habe die Zahl der Beschäftigten ein Plateau erreicht und sinke aktuell sogar. Dem stünden viele Gesetze der vergangenen 15 Jahre gegenüber, die ausgabenerhöhend gewirkt haben.
Professor Dr. Jürgen Wasem vom Lehrstuhl für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen verweist darauf, dass die GKV-Ausgaben schon seit vielen Jahren rascher als die beitragspflichtigen Einnahmen wachsen.
1970 hätten die Beitragssätze bei im Durchschnitt bei acht Prozent gelegen, zur Zeit der Wiedervereinigung bei zwölf Prozent, jetzt bei 17 Prozent. „Finanzielle Stabilität der GKV gibt es insoweit schon seit Langem nicht.“
Langfristig ist sicher eine Priorisierung im Leistungskatalog erforderlich.
Professor Günter Neubauer
Professor Dr. Volker Ulrich, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft der Universität Bayreuth, erinnert daran, dass ein Versicherter mit durchschnittlichem Einkommen im Jahr 2015 noch rund 2.850 Euro für seinen Krankenversicherungsschutz bezahlt habe – aktuell würden rund 3.900 Euro dafür fällig.
Für 2025 sei in der GKV ein Minus im zweistelligen Milliardenbereich zu erwarten. Zudem müssten etwa die Hälfte der Krankenkassen ihre Rücklagen auffüllen, die unter den vorgeschriebenen Mindestwert gesunken sind. „Mut und Gestaltungswillen“ brauche die nächste Bundesregierung, um eine „Überbeanspruchung des Systems zu verhindern“.
Professor Dr. Günter Neubauer, Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik in München (IfG), hält die GKV „nicht für die Zukunft gerüstet“. Denn ihre finanzielle Stabilität sei stark von der Arbeitsmarktsituation und der Beschäftigung abhängig. Das könne angesichts der sich rasch verändernden Arbeitsmarktbedingungen „nicht mehr zukunftsgerecht“ sein.
Welche Bedeutung sollte Kostendämpfung als Teil eines größeren Reformpakets dabei haben?
Für Jonas Schreyögg zeichnet sich ab, dass ein „Teil des Defizits durch Umschichtungen im Bundeshaushalt über Steuergelder gedeckt wird“. Das sei zwar nicht nachhaltig, „erscheint aber kurzfristig unumgänglich“. Günter Neubauer zeigt sich an dieser Stelle skeptisch.
Der Vorschlag, die Krankenkassen beispielsweise durch eine ausgaben-adäquate Finanzierung der Bürgergeldempfänger zu entlasten, werde „langfristig der grundlegenden Problematik nicht gerecht“.
Boris Augurzky zeigt sich überzeugt, die Dämpfung der Kostenanstiege müsse „oberste Priorität“ haben. „Die Belastung der Beitragszahler und der Unternehmen darf nicht weiter zunehmen, wenn Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht weiter zurückfallen möchte“, so Augurzky.
Er mahnt zugleich langfristige Maßnahmen an, die die Versorgungsqualität verbessern, „zumindest aber halten können“.
Jürgen Wasem empfiehlt einer neuen Regierung ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz. Dessen Ziel sollte es sein, „quer über die Leistungsbereiche das Ausgabenwachstum für zwei Jahre auf maximal die Grundlohnsumme beschränkt wird“.
Die zu erwartende Finanzierungslücke lässt sich nicht allein durch Wachstum schließen.
Professor Volker Ulrich
Volker Ulrich verweist darauf, dass beim Anstieg des Zusatzbeitragssatzes um 0,8 Beitragspunkte anteilig nur 0,3 Punkte eingeplant wurden, um die Ausgabendynamik im Jahr 2025 zu bewältigen. Zugleich seien die Kostendämpfungsinstrumente aus dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (2022) inzwischen ausgelaufen.
„Damit fehlt bislang fast vollständig eine Begrenzung der Ausgabendynamik in 2025 und auch in den kommenden Jahren.“
Jonas Schreyögg benennt mögliche Elemente eines Kostendämpfungspakets: Für einen begrenzten Zeitraum sieht er es geboten, Herstellerabschläge für Arzneimittel zu erhöhen und die Vergütung – ambulant wie stationär – moderat zu gestalten.
„Auch die Zuzahlungen sind in Deutschland seit Jahren nicht an die Inflation angepasst worden“, erinnert Schreyögg – diese könnten – beispielsweise analog zur Beitragsbemessungsgrenze – „dynamisiert“ werden.
Welche Sofortmaßnahmen wären aus Ihrer Sicht vorrangig?
Für Boris Augurzky ist die hohe Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in Deutschland ein wichtiger Ausgangspunkt für Reformen: Hierzulande gebe es im internationalen Vergleich die höchste Zahl an Krankenhausbehandlungen und ebenso eine hohe Zahl an Arztkontakten. „Dabei wäre weniger mehr“, sagt er.
„Wir brauchen unbedingt eine unterstützende Patientensteuerung, damit die Menschen das für ihren Fall richtige Angebot aufsuchen (können)“, betont er. Wer dagegen ohne vorherige Abklärung Leistungen nachfrage, müsse dann eine Zuzahlung leisten. „Das wäre eine faire Regelung.“
Augurzky hält eine Diskussion über eine „sozial gestaffelte Eigenbeteiligung“ für geboten. Die GKV als „Vollkaskoversicherung“ sei richtig. „Aber warum ohne Eigenbeteiligung? Es geht schließlich um ein öffentliches Gut, das für alle Menschen zur Verfügung stehen soll.“
Jonas Schreyögg gibt als ein Hauptziel vor, die „extrem hohen Belegungstage in der stationären Versorgung zu senken“. Dadurch könne auch der Druck nach immer mehr Fachkräften reduziert werden, betont er und verweist dazu auf Vorschläge des Sachverständigenrats für Gesundheit und Pflege, dessen Mitglied er ist.
Den größten Effekt erhofft sich Schreyögg durch eine Reform der Notfallversorgung – diese könnte „konservativ gerechnet bis zu 30 Millionen Belegungstage reduzieren“. Von einer weiterentwickelten und finanziell incentivierten hausarztzentrierten Versorgung verspricht er sich eine Verringerung um 20 Millionen Belegungstage pro Jahr.
Beide Vorhaben würden aber mindestens zwei Jahre benötigen, um Entlastungswirkungen zu zeigen.
Die neue Regierung sollte ein kurzfristiges Kostendämpfungs-Programm beschließen.
Professor Jürgen Wasem
Volker Ulrich geht davon aus, dass im Rahmen einer GKV-Finanzreform versicherungsfremde Leistungen über Steuern finanziert werden sollten. „Steuererhöhungen sind aber selten perfekte Lösungen, sie verteilen lediglich die gleichen Belastungen anders“, gibt er zu bedenken. Damit stelle sich die Frage „nach (besseren) Alternativen“.
Allerdings zeige die Vergangenheit, dass man durch das Heben von Rationalisierungs- und Effizienzreserven „im föderalen Kompetenzgerangel nur äußerst langsam vorankommt“. Kurzfristig werde eine neue Regierung daher nicht „um eine Erhöhung des Steuerzuschusses umhinkommen“.
Günter Neubauer, warnt vor den Folgen einer „strengeren Budgetierung“, wie sie von Krankenkassen ins Spiel gebracht wird. Dies stelle keine kurzfristige Lösung dar, da sie „zu einer stillen Leistungsverweigerung“ zu Lasten der Leistungsempfänger führe, so seine Überzeugung.
Kann die Priorisierung von GKV-Leistungen eine Option sein? Entlang welcher Kriterien könnte diese erfolgen?
Jürgen Wasem betont, die Schere zwischen dem Wachstum von Ausgaben und dem der beitragspflichtigen Einnahmen werde angesichts des demografischen Wandels weiter auseinandergehen. „Von daher, denke ich, wir müssen die GKV ein Stück weit demografiefester machen – ähnlich wie in der Rentenversicherung.“
Das werde man allein über Effizienzsteigerungen nicht hinbekommen, ist er sich sicher. Auch angesichts des umfangreichsten Leistungskatalogs in Europa sei es daher „notwendig und vertretbar“, an eine Begrenzung dieses Katalogs „heranzugehen“. Die Kriterien müssten „gesellschaftlich diskutiert“ werden, weil dies eine normative Entscheidung sei, so Wasem.
Boris Augurzky fordert, den Fokus stärker auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis der einzelnen Leistungen zu legen. Dafür sei Transparenz darüber nötig, „was gemacht wird und was es den Patienten überhaupt bringt“.
Das werde nur durch eine „allumfassende elektronische Patientenakte“ gelingen. „Ich bin mir sicher, dass wir viele Maßnahmen ohne oder nur mit geringem Nutzen sehen werden, die wir dann beenden können“, so Augurzky. Die Patienten würden in diesem Prozess dann gar keinen Schaden erfahren.
Eine Vollkaskoversicherung (...) ist richtig. Aber warum ohne Eigenbeteiligung?
Professor Boris Augurzky
Aus Sicht von Volker Ulrich gibt es bei der Priorisierung von Leistungen „kein Erkenntnis-, sondern eher ein Umsetzungsproblem“. Bereits seit 1982 sei es immer wieder zu Eingriffen in den Leistungskatalog gekommen. Ausschlusskriterien könnten medizinische, ökonomische oder gesundheitspolitische Kriterien sein, wie etwa die Kosten-Effektivität einer Leistung, die Preiselastizität oder die Schwere des gesundheitlichen Problems.
Aber auch öffentliche Gesundheitsziele, Zugangsfragen oder Gerechtigkeitsaspekte könnten Priorisierungskriterien darstellen, erläutert er. Möglicherweise sei Priorisierung aber gar nicht geboten, denn „auch Anreizverbesserungen sind ein wichtiger Schritt in eine nachhaltigere Gesundheitsversorgung“.
Als Stichworte nennt Volker Ulrich mehr Vertragswettbewerb, eine GKV-weite Tarifstruktur mit Basis- und Wahltarifen zur Patientensteuerung oder Telemedizinmodelle.
Jonas Schreyögg hält wenig von einer „Leistungskürzungsdiskussion“: „Auch unter Gerechtigkeitsaspekten wäre stattdessen der gezielte Einsatz von Selbstbeteiligung und/oder Beitragsrückgewähr bei der Patientensteuerung viel sinnvoller.“
Bereits durch die geltenden Regelungen seien über fünf Millionen GKV-Versicherte mit geringem Einkommen – und auch alle Minderjährigen – von Zuzahlungen befreit.
Günter Neubauer schlägt eine Priorisierung im Leistungskatalog in der Gestalt vor, dass bei Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln durch eine prozentuale Kostenbeteiligung Patienten selbst an der Priorisierung von Leistungen beteiligt werden.
Ist es realistisch, die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben insbesondere durch Wirtschaftswachstum zu schließen?
Volker Ulrich hält das für „nicht realistisch“. Ein Prozent Wachstum bedeuteten etwa 2,5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahme der GKV. Die zu erwartende Finanzierungslücke „lässt sich nicht allein durch Wachstum schließen“ – auch weil die Alterung der Gesellschaft das Wachstum schwäche.
Eine wachsende Nachfrage und medizinische Innovationen würden weitere Ausgabensteigerungen auslösen. Das Problem der Lohnzentrierung bei der GKV-Finanzierung sei nicht durch „unausgegorene Ideen“ wie der Integration der Privatversicherten in die GKV oder der Verbeitragung von Kapitaleinkünften beizukommen. „Klüger wäre es, die Nicht-GKV-Versicherten durch eine Ausweitung des Steuerzuschusses an der GKV-Finanzierung zu beteiligen.“
Allerdings, gibt er zu bedenken, verteile eine stärkere Steuerfinanzierung die Lasten nur anders, verringere sie aber nicht. Eine finanzielle Stabilisierung der GKV werde nur gelingen, wenn sie auch von „Strukturreformen und Einschnitten auf der Leistungsseite begleitet“ wird.
Jonas Schreyögg hält es für denkbar, durch Migration, Anreize für längere Erwerbstätigkeit und für bisher Arbeitslose kurzfristig wieder die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten zu erhöhen. Durch gesteuerte Migration müssten Menschen in Erwerbstätigkeit gebracht werden, um den Renteneintritt der Babyboomer zu kompensieren.
„Ob das gelingt, ist mehr als ungewiss“, warnt Schreyögg. Alle Beteiligten müssten sich darauf einstellen, dass die Einnahmen in den kommenden Jahren „eher stagnieren werden“. Daher führe kein Weg daran vorbei, über Strukturreformen die Ausgaben zu senken.
Jürgen Wasem teilt diese Skepsis: „Je mehr Wirtschaftswachstum, desto besser. Ich bin aber nicht so optimistisch, dass dies reichen wird.“
Ich halte wenig von einer Leistungskürzungs-Diskussion.
Professor Jonas Schreyögg
Dagegen gibt Boris Augurzky ein „klares Plädoyer“ ab: Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, müsse „ganz oben auf der Agenda stehen“. Der Wirtschaft sei in den vergangenen Jahren „eine Unmenge an Regulierung“ auferlegt worden, worunter die Produktivität leide. Die Alterung sei kurzfristig kaum aufhaltbar, doch die „Bremsen“ durch eine Überregulierung könnten sofort gelockert werden.
Ohne Unternehmen gebe es keine Wertschöpfung und damit keine Einnahmen für die Krankenkassen. „Gute Wirtschaftspolitik ist die beste Gesundheitspolitik“, so Augurzkys Fazit.
Aus Sicht von Günter Neubauer, wäre ein Wachstum der beitragspflichtigen Einkommen „hilfreich“, doch hält er weitere Reformschritte für erforderlich.
So sollte etwa die Bindung der Beitragsbemessung an das Arbeitseinkommen aufgegeben werden. Stattdessen sollte das gesamte Einkommen eines Haushalts zur Beitragsbemessung herangezogen und der Arbeitgeberanteil an die Versicherten ausgezahlt werden.
Dies vermindere die Bürokratie der Wirtschaft, stärke die Beitragselastizität der Versicherten und erhöhe den Wettbewerbsdruck auf die Krankenkassen. Diese wiederum sollten mehr Spielraum für die Beitragsgestaltung ihrer Mitglieder erhalten.
Quelle: Ärzte Zeitung - Springer Medizin Verlag GmbH