PRÄVENTION: PLÄDOYER FÜR SUBSTANZIELLE NATIONALE STRATEGIEN GEGEN KREBS, DIABETES & ANDERE
Ärztlicher Rat zu individueller Lebenstil-Änderung verpufft bei Patienten wie auf einem heißen Stein. Forscher nehmen den Staat in die Pflicht, gezielte Gesundheitsstrategien konsequent umzusetzen.
Bremen. Trotz Corona-Pandemie bleiben nicht-übertragbare Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Herk_Kreislauf-Erkrankungen bei Weitem die Hauptursache für Behinderung und Tod in Europa. Nach Ansicht der Vertreter des Policy Evaluation Network (PEN), eines EU-finanzierten Projektes, bringt es nicht viel, ständig die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in die Pflicht zu nehmen, ihren Patienten dringend eine Lebensstiländerung anzuraten.
„Die Ursachen der wichtigsten nicht-übertragbaren Krankheiten sind seit Jahrzehnten gut erforscht, aber wir sehen wenig bis gar keine Fortschritte bei ihrer Bewältigung. Da wir mit einer zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheit konfrontiert sind, brauchen wir politische Maßnahmen, um diesen negativen Trend zu stoppen“, erläutert Professor Wolfgang Ahrens, stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS in Bremen und Projektkoordinator von PEN.
Systemorientierte Ansätze im Fokus
Die Zahlen sind laut PEN eindeutig: Chronische Krankheiten, die durch Bewegungsmangel und schlechte Ernährung verursacht werden, machen 77 Prozent der Krankheitslast und fast 86 Prozent der vorzeitigen Todesfälle aus. Der Anteil dieser Krankheiten nimmt weiter zu. Konkret geht es dabei etwa um Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und Atemwegserkrankungen.
Die Hauptgründe für diesen Trend seien gut erforscht: In ihrem täglichen Leben kombinierten viele Europäerinnen und Europäer körperliche Inaktivität und ausgedehnte sitzende Tätigkeiten mit dem übermäßigen Konsum von energiereichen Lebensmitteln und Getränken, die außerdem oft zu viel gesättigte Fette, Transfettsäuren, Zucker oder Salz enthielten, während sie nur geringe Mengen an Gemüse, Obst und Vollkornprodukten zu sich nähmen.
„Um die derzeitige Situation zu ändern, ist es notwendig, über die individuelle Verhaltensänderung hinaus zu umfassenderen politischen und systemorientierten Ansätzen überzugehen. Bei Policies geht es darum, Systeme zu verändern, nicht Menschen. Sie umfassen in der Regel Prozesse, die über mehrere Sektoren hinweg angestoßen werden, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, etwa eine Verringerung der körperlichen Inaktivität in der Bevölkerung“, so Ahrens.
Dies erfordere ein behutsames Abwägen zwischen dem, was erreichbar ist, was sich auf Fakten stützt und was politisch gewollt ist oder auf Zustimmung stößt. Die Ergebnisse von PEN zeigten, wie erfolgreiches politisches Handeln aussehe und wie politische Maßnahmen, wenn sie vollständig umgesetzt würden, das Potenzial haben, die Gesundheit und das Wohlbefinden einer ganzen Bevölkerung grundlegend zu verbessern.
Im Rahmen der „Joint Programming Initiative on a Healthy Diet for a Healthy Life“ (JPI HDHL) haben 28 Forschungsinstitute aus sieben europäischen Ländern und Neuseeland ihr Fachwissen in PEN gebündelt. Die Vision des Netzwerks ist es, Europa Instrumente zur Verfügung zu stellen, mit denen politische Maßnahmen zur direkten oder indirekten Bekämpfung von Bewegungsmangel und ungesunder Ernährung identifiziert, bewertet und verglichen werden können. Bisher habe es dazu in Europa fast keine systematische Forschung gegeben.
Gesundheit geht nicht ohne Politik
Mit einer PEN-Sonderausgabe des European Journal of Public Health habe sich die Faktenlage zu diesem Thema nun grundlegend geändert. „Mit dieser Veröffentlichung rufen wir zum Handeln auf. Es ist ein Aufruf an Regierungen und politische Entscheidungsträger auf nationaler und lokaler Ebene, das neu erworbene Wissen zu nutzen, um starke, umfassende politische Lösungen zu entwickeln, umzusetzen und zu bewerten. Lösungen, die nachhaltig und gerecht sind und die aktuelle gesundheitliche Herausforderungen wirksam angehen“, so Ahrens.
Es sei ein Aufruf an die Geldgeber auf europäischer, nationaler und lokaler Ebene, der Policy-Forschung weiterhin Priorität einzuräumen und sie zu finanzieren, um auf der Arbeit von PEN aufzubauen. „Wir haben gerade erst begonnen, die Auswirkungen von Policies auf das menschliche Verhalten und die Umwelt zu verstehen“, verdeutlicht Ahrens.
Es sei aber auch ein Aufruf an die Policy-Forscher, über klassische Publikationen hinauszugehen und ihre Ergebnisse in relevante und aussagekräftige Ratschläge und Advocacy-Dokumente für politischen Entscheidungsträger umzusetzen, um politische Maßnahmen zur Förderung der Gesundheit aller Bürger in ganz Europa voranzutreiben.
Als epidemiologisches Forschungsinstitut sieht das BIPS seine Aufgabe nach eigener Aussage darin, Ursachen für Gesundheitsstörungen zu erkennen und neue Konzepte zur Vorbeugung von Krankheiten zu entwickeln.