Digitale Gesundheitsanwendungen – unnütz und teuer?
Krankenkassen und Hersteller im Clinch
Berlin. Vier Jahre nach Einführung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) ist bei den Verordnungen und Kassengenehmigungen die Millionengrenze längst geknackt.
69 DiGA waren im Mai 2025 im Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelistet. Seit September 2020 beliefen sich die Leistungsausgaben der Krankenkassen für DiGA auf rund 234 Millionen Euro (davon entfielen allein 110 Millionen Euro auf das Jahr 2024).
Im Vergleich zu anderen GKV-Ausgabeposten ein Kleckerbetrag. Doch im vierten DiGA-Bericht ist das für den GKV-Spitzenverband (GKV-SV) Grund genug, im Gesundheitsministerium Änderungen bei den Vergütungsregeln anzumahnen.
Steigende Herstellerpreise
In jeder Zeile ist dem Bericht der Argwohn anzumerken, den die Krankenkassen gegenüber der Preisgestaltung der DiGA-Hersteller hegen. Anlass dafür sind die Beträge, welche die Hersteller im ersten Jahr, in dem die Apps im DiGA-Verzeichnis gelistet sind, relativ frei festlegen können und welche die Kassen erstatten müssen.
Hier, so heißt es in dem GKV-Report, zeige sich über die vergangenen vier Jahre „weiterhin ein deutlicher Anstieg“. Im ersten Berichtsjahr 2021 habe der Preis noch bei durchschnittlich 411 Euro gelegen, 2024 betrage er nun schon 541 Euro.
Kassen sehen „enorme Unwucht“
„Diese Beträge werden dabei im Gros für Produkte aufgerufen, deren Nutzen und Wirksamkeit in keiner Weise belegt sind. Ob sie den Versicherten wirklich helfen oder ob sie von den Versicherten überhaupt genutzt werden, bleibt völlig offen“, schreibt der GKV-SV mit Blick auf die „meisten“ Anwendungen, die erst einmal nur zur Erprobung in die Liste aufgenommen werden.
Damit bestehe eine „enorme Unwucht“ zum einen im Verhältnis zur Vergütung anderer GKV-Leistungen und zum anderen zur Vergütung von DiGA mit nachgewiesenem Nutzen. Für diese (2024 waren es 33 DiGA) zahlten die Krankenkassen im vergangenen Jahr im Schnitt 226 Euro.
Ärger über Anschubfinanzierung
Die Krankenkassen ärgern sich darüber, aus Beitragsmitteln Wirtschaftsförderung betreiben zu müssen. „Da die verhandelten Preise erst ab dem 13. Monat der Aufnahme einer DiGA in das DiGA-Verzeichnis gelten, kommen die Überzahlungen im ersten Jahr der DiGA-Aufnahme einer Anschubfinanzierung gleich, denn die Herstellenden müssen für die ersten zwölf Monate keine Rückerstattungen leisten“, heißt es in dem Bericht.
Werde die Erprobungsphase verlängert auf ein zweites Jahr, laufe dies de facto darauf hinaus, dass die GKV den Herstellern „Finanzmittel und Liquidität“ auf eigene Kosten zur Verfügung stelle. Zudem riskiere sie, dass nach der rückwirkenden Festlegung des verhandelten niedrigeren Preises keine Ausgleichzahlung erfolgt, weil der DiGA-Entwickler inzwischen insolvent sei.
Preisverhandlungen sollten Rückwirkung bekommen
Der GKV-Spitzenverband fordert deshalb wie in den vergangenen Jahren, die verhandelten Preise schon ab dem ersten Tag der Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis rückwirkend gelten zu lassen. „Die derzeit gültigen Regelungen bereiten den Herstellenden das Geschenk eines hohen Preises zulasten der Solidargemeinschaft der Beitragszahlenden, obwohl der Nutzen gering, wenn überhaupt gegeben ist. Diesen Missstand muss der Gesetzgeber beseitigen.“
Zum jährlichen Ritual des DiGA-Reports gehört nicht nur, dass die Krankenkassen die hohen Erstattungspreise anprangern, sondern auch, dass die DiGA-Hersteller sich bemühen, das aus ihrer Sicht schiefe Kassenbild wieder gerade zu rücken.
Hersteller kontern Kritik
Die Behauptung, dass es bei einigen vorläufig aufgenommen DiGA keinen nachgewiesenen Versorgungseffekt gebe und eine beliebige Preisfestlegung im ersten Jahr stattfinde, stimme so nicht. Schließlich durchliefen die Apps beim BfArM ein intensives Prüfverfahren, bevor sie im Verzeichnis gelistet werden.
Zudem wiesen die DiGA den Nutzen in randomisierten klinisch kontrollierten Studien nach, wie der Spitzenverband der digitalen Gesundheitsversorgung (SVDGV) in seinem eigenen aktuellen DiGA-Report betont.
Ohne die Möglichkeit der vorläufigen Aufnahme würde es nur zwölf DiGA im Verzeichnis geben. Daher sei das eingeführte Verfahren mit einer vorläufigen Aufnahme aus Sicht des SVDGV sinnvoll.
Grund für DiPA-Misserfolg
„Aus Verbandssicht handelt es sich um keine Anschubfinanzierung, wie der GKV-Spitzenverband behauptet, sondern um eine Vergütung von Leistung“, sagt Diana Meskendahl, die an dem Report mitgeschrieben hat, auf Anfrage der Ärzte Zeitung. Es sei eine Vergütung für ein zertifiziertes Medizinprodukt, das vom BfArM als DiGA aufgenommen wurde.
Das Erprobungsjahr sei vom Gesetzgeber vorgesehen worden, damit DiGA-Hersteller in den Markt treten können, so Meskendahl. Oft handele es sich zu Beginn um kleinere Studien. Größere klinische Studien erfolgten dann im Erprobungsjahr.
Was ohne die Möglichkeit der vorläufigen Aufnahme und des Erprobungsjahres geschehe, zeige sich an den digitalen Pflegeanwendungen (DiPA): Bisher gebe es keine einzige im Markt, weil die Hürden zu hoch seien, so Meskendahl.
BMG lobt Zugang zu innovativen Produkten
Die Vorfinanzierung von Seiten der Hersteller sowie die Datenschutzzertifizierungen würden enorme Investitionen erfordern. Die Grundlagen für die Berechnung der Preise seien im Vorfeld mit dem GKV-SV in einer Rahmenvereinbarung abgestimmt worden. Die Vergütung werde also nicht beliebig festgelegt. Ab 10.000 Rezepteinlösungen gelte ohnehin ein reduzierter Preis, merkt Meskendahl an.
Auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) teilt die Kritik des GKV-Spitzenverbands nicht. Mit der vorläufigen Erstattung während der Durchführung von Studien zum Nachweis positiver Versorgungseffekte werde den GKV-Versicherten frühzeitig „der Zugang zu qualitativ hochwertigen, innovativen digitalen Versorgungsmöglichkeiten eröffnet“, sagt eine BMG-Sprecherin auf eine Anfrage der Ärzte Zeitung, die vor dem Wachwechsel im BMG erfolgte.
Erneute Verhandlungen jederzeit möglich
Überdies liege die nähere Ausgestaltung der Preisbemessung in den ersten zwölf Monaten sowie für die dauerhaft verhandelten Vergütungsbeträge ab dem 13. Erstattungsmonat in den „Händen des GKV-Spitzenverbands und der Herstellerverbände“. „Das SGB V weist die Aufgabe der Regulierung der tatsächlichen Herstellerpreise im ersten Jahr der Erstattung den Institutionen der Selbstverwaltung zu“, so die Sprecherin.
„Der GKV-Spitzenverband ist aufgefordert, in einer Rahmenvereinbarung mit den Herstellerverbänden effektive Vorgaben für die Bemessung der tatsächlichen Herstellerpreise und die Festlegung von gruppenbezogenen Höchstbeträgen zu treffen. Auch die Bildung der tatsächlichen Herstellerpreise unterliegt insofern einer intensiven Regulierung“, heißt es weiter.
Wenn der GKV-SV die derzeitigen Regelungen der Rahmenvereinbarung für unzureichend erachte, könne er mit den Herstellerverbänden in erneute Verhandlungen treten. Werde keine Einigung erreicht, sei es möglich, dass anschließend eine Schiedsstelle weitergehende Regelungen zur Preisbegrenzung treffe.
„Das Entwicklungsrisiko ist sehr hoch“
Dr. Mario Weiss, Arzt, Gründer und Vorstandsvorsitzender von GAIA, ein Unternehmen, das mittlerweile sieben DiGA im BfArM-Verzeichnis gelistet hat (unter anderem die aktuell teuerste DiGA Levidex mit 2077,40 Euro zur Behandlung von MS), erklärt dazu: „Die Höchstgrenzen sind indikationsabhängig. Und wenn man der erste DiGA-Anbieter einer Indikation ist, dann kann man auch andere Preise festlegen. Im MS-Bereich sind wir Innovationsführer, allerdings ist die Zielgruppe im Vergleich zu anderen Indikationen recht klein, das Entwicklungsrisiko sehr hoch und die Studien teuer, weshalb der Preis hoch ist.“
Ziel sei es immer, dass es den Patienten mit der DiGA besser geht. Im Vergleich zu Medikamenten mit Jahrestherapiekosten um 20.000 Euro bei Innovationen sei die DiGA günstig, so Weiss. Zumal es sich bei der DiGA für MS um eine Einmallizenz handelt, also nicht um eine 90-Tage-Lizenz mit Folgeverordnung.
„Die Compliance liegt bei unseren DiGA bei 80 Prozent, bei der MS-DiGA sogar bei 90 Prozent, da der Leidensdruck hoch ist. Vorteil ist natürlich, dass eine DiGA keine Nebenwirkungen hat“, sagt Mario Weiss.
Ist GKV-SV unsportlich?
Den Bericht des GKV-Spitzenverbandes findet Weiss unsportlich. Die Hersteller hätten nur das erste Jahr, um über den Preis die Studienkosten, die je nach Indikation sehr hoch sind, gegenzufinanzieren. „Für schwierige Nischenindikationen wie die MS ist das die einzige Chance, überhaupt eine DiGA zu entwickeln“, so Weiss.
Die Prozesse, um eine DiGA an den Start zu bringen, findet Weiss grundsätzlich gut. Teilweise würden aber auch Forderungen gestellt, die der Gesetzgeber so nicht vorgesehen habe.
Das Hauptproblem ist aus Sicht von Weiss aber, dass das BfArM unter Personalmangel leide. Oft würden Termine nicht gehalten, was ärgerlich sei.
Kassen bieten vom BfArM nicht geprüfte Apps an
Einen Seitenhieb kann sich der GAIA-Chef nicht verkneifen. Auch die Krankenkassen böten ihren Versicherten eigene Apps an – die nicht offiziell vom BfArM geprüft worden seien oder einen Evidenznachweis in Studien erbringen könnten. Die Kosten trügen hier auch die Versicherten. Und über die Indikationsstellung und Verordnung entschieden nur die Kassenmitarbeiter und nicht Ärztinnen oder Ärzte.
Ein weiterer Vorwurf im DiGA-Bericht des GKV-Spitzenverbands gilt dem enormen Anstieg an DiGA-Verordnungen im vergangenen Jahr. Dabei fällt eine DiGA besonders auf: Oviva, eine digitale Gesundheitsanwendung zur Behandlung von Adipositas.
Zuwachs um 600 Prozent
Für sie wurden 2024 knapp 125.000 Freischaltcodes ausgegeben. Vom zweiten zum dritten Aufnahmejahr im Verzeichnis stieg die Abgabemenge laut DiGA-Bericht um 653 Prozent. Auch von den Kassen wurde die App eifrig genehmigt: Hinter der Endo-App und Smoke Free liegt sie mit einem Anteil von 27 Prozent an dritter Stelle.
Laut GKV sollen die hohen Genehmigungszahlen nicht aufgrund des Bedarfs, sondern aufgrund fragwürdiger Kooperationen erlangt worden sein.
Forderung nach eigener Abrechnungsziffer
Oviva selbst sagt zu den Gründen für den Erfolg: „Wir haben mehr investiert, um die Bekanntheit bei Ärzten und Patienten zu erhöhen. Und auch in das Produkt, um es besser zu machen, etwa in KI, die hilft, die DiGA auf den Patienten individuell zuzuschneiden“, sagt Anna Haas, Chief Commercial Officer bei Oviva und stellvertretende Vorsitzende des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung.
Außerdem sei das Thema Adipositas im Aufwind und die DiGA auch in den Leitlinien zu finden, so Haas.
Die Erfahrung, die Haas in Gesprächen mit Ärzten und Ärztinnen sowie Praxismitarbeitern gemacht hat, ist, dass das Interesse für DiGA da ist und die Mediziner auch offen für Neues seien. Oft fehle aber die Zeit für neue Prozesse. „Sinnvoll wäre es, wenn es eine Abrechnungsziffer für DiGA gibt, denn es kostet Zeit, den Patienten eine DiGA zu erklären“, sagt Anna Haas.
Quelle: Ärzte Zeitung - Springer Medizin Verlag GmbH