Charcot Neuropathische Osteoarthropathie (CN) - die unterschätzte Gefahr
Die Zahl der Diabetiker steigt weltweit und auch in Deutschland weiter auf dramatische über 10% der Bevölkerung. Durch die bessere Versorgung des Diabetes nimmt die Zahl der Patienten mit Folgekomplikationen insbesondere dem „Diabetischen Fußsyndrom“ zu.
Als Orthopädischer Rheumatologe ist es mir aber besonders wichtig daraufhin zu weisen, dass auch Patienten ohne Diabetes durch eine Polyneuropathie anderer Ursache an einer Charcot Neuropathische Osteoarthropathie (CN) erkranken können.
Eine Polyneuropathie bezeichnet eigentlich eine Vielzahl neurologischer Erkrankungen, die zwar meist durch Diabetes aber auch im Rahmen andere Erkrankungen, z.B. (bisher unerkannter) rheumatischer Erkrankungen, als Nebenwirkung bestimmter Medikamente, einem Vitamin-B-Mangel, durch Alkoholabusus oder auf Grund anderer Ursachen entstehen können. Meist bemerken die Patienten anfangs nur geringe Symptome wie eine strumpfförmige von distal nach proximal aufsteigende Taubheit der Zehen oder des Fußes. Es können aber auch polyneuropathische Schmerzen und Missempfindungen wie z.B. „brennende Füße“ insbesondere auch nachts auftreten. Es ist von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf, dass eine Polyneuropathie vor Eintreten von Gelenkschäden oder Ulceration entdeckt, die Ursache behandelt und der Fuß leitliniengerecht versorgt wird.
Klinisch kann eine Polyneuropathie durch einen Test mit der Stimmgabel, den Test des Achillessehnereflexes und eines Semmes-Weinsteinmonofilamentes schnell, einfach und kostengünstig diagnostiziert werden. Wird die Krankheit nicht erkannt und behandelt, besteht ein hohes Risiko, dass offene Stellen (Ulcera) auftreten. Diese heilen oft langsam oder gar nicht ab und können sich infizieren. Bei der Ulkusentstehung spielen nicht nur der pathologisch auch durch die oft bestehende Ataxie veränderte Spitzendruck (Peak Pressure) sondern auch die schwer in vivo zu messenden Scherkräfte eine entscheidende Rolle. Durch Einsatz der Thermografie können Scherkräfte indirekt sichtbar gemacht werden. Exostosen z.B. durch geschädigte und subluxierte Gelenke können einen gefährlichen inneren Druck ausüben und Ulcerationen provozieren. Dann ist schnell eine Zehe oder der ganze Fuß in Gefahr. Obwohl erste Fortschritte erzielt werden konnten, ist die Zahl der Amputationen der unteren Extremität weiter erschreckend hoch. Besonders Besorgnis erregend ist dies, weil eine Vielzahl dieser Amputationen verhindert werden könnte.
Die Charcot Neuropathische Osteoarthropathie (CN) ist eine schwere Komplikation der Knochen und Gelenke bei Polyneuropathie, die meistens am Fuß auftritt aber auch andere Gelenke z. B. die Hand oder das Knie betreffen kann (1,2,3). Eine CN führt zu einer typischerweise schubartig verlaufenden Zerstörung von Knochen und Gelenken bis hin zum vollständigen Zusammenbruch des Fußes mit nachfolgender Ulkusbildung und Infektion. Der Pathomechanismus bleibt weiter unklar. Jeffcoate postulierte 2005 eine „inflammatorische Theorie“ für die nun erst in der neuesten Forschung klinische und histopathologische Beweise gezeigt werden konnten (4,5). Die Diagnose gerade in frühen Stadien bleibt weiter schwierig, da immer noch kein valides Testverfahren oder Labortest existieren. So bleibt es weiterhin eine klinische Diagnose, die stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängig ist und somit leider oft erst zu spät gestellt wird, wenn schon irreparabeler Schaden am Fuß entstanden ist. Das klinische Bild mit typischerweise einseitig geschwollenem, überwärmten Fuß mit teilweise schon massiver Fehlstellung und oft charakteristischer Diskrepanz zwischen deutlichen klinischen Zeichen und sehr geringem oder keinem Leidensdruck (fehlendes Schmerzempfinden und Wahrnehmung durch die Polyneuropathie) ist oft wegweisend. Das Röntgen und die typischen radiologischen Zeichen nach Eichenholtz zusammen mit der Klinik bilden weiterhin die Grundlage der Diagnose (1,6). Da frühe Stadien im Röntgen nicht erfasst werden können, aber gerade dann der Fuß noch gerettet werden kann, wurde das MRT mit einem Stadium 0 eingeführt (7). Aber gerade in akuten Stadien darf keine Zeit verloren gehen, da hier oft die Gelenke und das Fußskelett noch gerettet werden können. In dem aktuellen Consensus Paper wurde vereinbart als international einheitliche Bezeichnung Charcot Neuropathische Osteoarthropathie mit der Abkürzung CN zu gebrauchen und nur noch in ein „aktives“ und ein „inaktives“ Stadium zu unterscheiden, da nur dies eine praktische Relevanz besitzt: In aktiven Stadien soll der Fuß unverzüglich und sofort immobilisiert und entlastet werden („Offloading“). Der Autor hatte die Ehre auf persönliche Einladung von Professor Armstrong auf dem Diabetic Foot Congress 2017 in Houston (DFCon2017) über die Pathogenese der CN vortragen zu dürfen [Abbildung 1]. Auf diesem Kongress zeigte Professor Jeffcoate eindeutige Daten, dass in aktiven Stadien alle abnehmbaren Versorgungen welcher Art auch immer ein signifikant schlechteres Outcome haben als nicht-abnehmbare Versorgungen insbesondere der weltweit am meisten verbreitete Total Contact Cast für den es multiple Anwendungsstudien mit exzellentem Ergebnis gibt (8). In unserem eigenen Bereich werden aktive Stadien unverzüglich debridiert (falls ein Ulkus besteht) und dann entweder in einem Total Contact Cast oder in weniger schweren Fällen in einer Orthese entlastet. Operiert und stabilisiert wird nur, wenn es unausweichlich ist, zum Beispiel auf Grund einer so massiven Fehlstellung, Infektion oder Instabilität, die eine Versorgung im Total Contact Cast nicht möglich macht. Wichtig ist hier zu betonen, dass die Versorgung einer CN primär eine konservative Behandlung mit dem Ziel des Erhalts des Fußes, der Vermeidung von Ulcera und Infektionen, und der Erhalt der Gehfähigkeit ist, auch wenn aus oben genannten Gründen Operationen notwendig werden können. Die Versorgung mit diabetes-adaptierten Weichbettungen, ggf. Orthesen, konfektionierten oder maßgefertigten Schuhen und/oder Total Contact Cast analog zu akutellen Risikoklassifikation bei Diabetischem Fußsyndrom in der akutellen Fassung stellt immer einen dynamischen Prozess dar, der immer wieder überprüft und angepasst werden muss, da es sich um eine schwere, lebenslange und progrediente Erkrankung handelt [Abbildung 2].
Wenn eine Operation notwendig ist, dann muss grundsätzlich immer beachtet werden, dass es sich meist um multimorbide Patienten und eine schwere komplexe Erkrankung des Fußes und somit um Hochrisikofüße handelt. Auf Grund der Polyneuropathie und der damit einhergehenden Gang- und Standunsicherheit, können die Patienten in der Regel nicht auf einem Bein stehen (9). Dies ist bei jeder Operationsplanung zu beachten: Jegliches Nachbehandlungskonzept, dass auf einer postoperativen Teilbelastung beruht ist damit hochgradig gefährdet zu scheitern, da die Patienten dies gar nicht können. Es ist also eine schnellst-mögliche Vollbelastung anzustreben und die Zeit der Entlastung zu planen (Rollstuhl- und Transfertraining ggf. Kurzzeitpflege, z.B. wenn der Patient im ersten Stock ohne Aufzug wohnt). Bei einer mehrwöchigen Hospitation bei Professor David Armstrong in den USA lernte der Autor die dortige Lösung für dieses Problem zu schätzen: Seitdem werden die Patienten durch den Knee-Scooter entlastet. Der betroffene Fuß kann vollständig entlastet werden und der Patient bleibt trotzdem selbstständig und mobil. Bei beidseitigem Befall kann ein Walking Bike ähnliche Dienste leisten. Es existieren verschiedene Operationstechniken. Fremdmaterial egal welcher Art läuft langfristig immer Gefahr selbst einen internen Druck mit Gefahr einer Ulkusbildung darstellen zu können, wenn es bricht, disloziert oder wenn durch einen neuen Aktivitätsschub der Erkrankung die Knochen und Gelenke sich auflösen. Dann kann dieses Material zum gefährlichen Keimträger werden. Eine Metallentfernung gebrochener Schrauben, Platten oder Nägel kann äußert aufwendig bis hin zu unmöglich sein. Ferner sollte immer bedacht werden, dass die Patienten mit Charcotfüßen oft an einer Vielzahl von Co-Morbiditäten leiden. Nicht selten besteht zusätzlich eine Gefäßerkrankung und eine deutlich herabgesetzte Körperabwehr insbesondere im Bereich der Füße. Wir haben es somit mit einem Hochrisikopatientengut zu tun, das ein stark erhöhtes Operationsrisiko aufweist und schnellst-möglich mobilisiert werden muss.
In einer Studie an 292 Füßen konnte gezeigt werden, dass durch den Einsatz eines Fixateur externe Fehlstellungen, Instabilitäten und Infektionen eines Charcotfußes mit hohem Erfolg operiert werden können (9). Nach 6-8 Wochen kann das Fremdmaterial vollständig entfernt und eine Vollbelastung in Einschalen-Unterschenkelorthese erreicht und in über 95% eine Major-Amputation vermieden werden (9). Deswegen wird in unserer Klinik auf interne Fixierungen vollständig bei Charcotfüßen verzichtet. Oft reichen aber auch schon minimal-invasive Kleinsteingriffe wie Tenotomtien der Beuge- und Strecksehnen aus, um Krallenzehen in ihrer Stellung so zu verbessern, dass keine Ulcera mehr auftreten (10). In unserem eigenen Bereich operieren wir grundsätzlich ohne Blutsperre und versuchen sogar auf interne Näht oder bei der Sehnenchirurgie sogar auf Hautnähte zu verzichten. Wenn immer möglich operieren wir in Lokalanästhesie. Durch eine perkutane Achillessehnenverlängerung, welche ebenfalls in Lokalanästhesie durchgeführt werden kann, kann sehr effektiv eine häufig vorhandene Spitzfußstellung korrigiert und der Druck vom Vorfuß umverteilt werden. Aber mit der Hautnaht (wenn notwendig) hört die Behandlung nicht auf, sondern diese fängt erst an: Von entscheidender Bedeutung ist, dem lebenslangen progredienten Verlauf dieser Erkrankung Rechnung zu tragen und schon vor Beginn eine ganzheitliche Behandlungsstrategie grundsätzlich immer beider Füße (im eigenen Kollektiv in der Mehrzahl der Fälle beidseitiger Befall oft allerdings in unterschiedlichen Stadien) zu entwickeln. Die Nachversorgung ggf. in einer geplanten Abfolge von Orthese (oder Total Contact Cast) und Schuhversorgung mit Mobilisierung und Vollbelastung zum frühesten möglichen Zeitpunkt ist zu gewährleisten. Die Aufklärung der Patienten über ihre Erkrankung, deren Verlauf und Gefahren ist von immenser Bedeutung. Dem Patienten sollte die Wichtigkeit der täglichen „Fußinspektion“, bei der der Patient seinen Fuß abtasten und auf Hautdefekte, Blut oder Infektionen (Fremdkörper in Schuh oder Fuß?) untersuchen soll, wenn er das kann, oder ein Angehöriger, bis hin zum Verständnis, dass die verordneten Hilfsmittel nur wirken können, wenn diese auch akzeptiert und konsequent getragen werden, klar verdeutlicht werden. Die beste Versorgung ist wirkungslos, wenn sie nicht getragen wird. Die gefährlichste Zeit ist hier nachts, wenn meisten Patienten oft mehrfach regelmäßig und meist barfuß im Dunkeln zur Toilette gehen.
Zusammenfassung
Die Charcot Neuropathische Osteoarthropathie (CN) stellt die schwerste Form des diabetischen Fußsyndroms mit hohem Risiko für Ulcerationen, Infektionen und Amputationen dar. Im Mittelpunkt der Erkrankung steht immer eine Polyneuropathie und nicht nur Diabetiker sondern alle Patienten mit Polyneuropathie sind gefährdet. Die Erkennung dieser Erkrankung zum frühesten Zeitpunkt und die unverzügliche Einleitung einer risiko-adaptierten Versorgung vor Zusammenbruch oder Infektion des Fußes entscheidet über den Langzeiterfolg. Es ist mit einer hohen Dunkelziffer unerkannter (Frühstadien) von CN zu rechnen. Die Behandlung ist primär konservativ, es können aber auch in jedem Stadium Operationen erforderlich werden. Hier sollten frühzeitig kleine, wenig invasive Maßnahmen in Betracht gezogen werden, um Infektionen oder größere Probleme und Operationen zu vermeiden. Es handelt sich um ein Hochrisikokollektiv, welches eng nachkontrolliert, begleitet und zum frühesten möglichen Zeitpunkt mit Vollbelastung mobilisiert werden muss. Die Orthopädieschuhtechnik insbesondere auch der gezielte Einsatz modernster Materialien bis hin zu Smart Textiles spielt eine Schlüsselrolle, wobei grundsätzlich nicht nur beide Füße sondern der gesamte Patienten mit allen Pathologien zu beachten ist.
Literaturverzeichnis
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- Engels G1, Stinus H2, Hochlenert D3, Klein A4. Concept of plantarization for toe correction in diabetic foot syndrome. Oper Orthop Traumatol. 2016 Oct;28(5):323-34. doi: 10.1007/s00064-016-0453-9. Epub 2016 Jun 28.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Dr. Illgner (rechts im Bild) zusammen mit Professor David Armstrong bei seinem Vortrag auf dem Diabetic Foot Congress (DFCon 2017) in Houston, USA.
Abbildung 2: "Einschalenorthese mit teilweiser Lastaufnahme über den Tibiakopf, was zu einer Entlastung des Fußes führt."