ARBEITSZEIT MÜSSTE NACH BAG-URTEIL AB SOFORT ERFASST WERDEN
Die Pflicht des Arbeitgebers, ein System zur werktäglichen Zeiterfassung einzurichten, gilt laut Bundesarbeitsgericht ab sofort. Bei säumiger Umsetzung drohen derzeit jedoch noch keine Sanktionen, erläutert ein Arbeitsrechtler.
Erfurt/Hamburg. Der am Dienstag ergangene Beschluss des Bundesarbeitsgerichts zur Zeiterfassungspflicht kam für viele überraschend. Zwar hatte bereits vor drei Jahren der Europäische Gerichtshof mit seiner Vorabentscheidung (Az.: C-55/18) in gleicher Sache für Aufregung gesorgt. Die hatte sich zwischenzeitlich aber wieder gelegt – auch deshalb, weil allgemein erwartet wurde, dass der nationale Gesetzgeber erst noch konkretere Umsetzungsbestimmungen formulieren würde.
Laut EuGH „müssen die Mitgliedstaaten Arbeitgeber verpflichten, ein System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Das geht deutlich über die bisher in Deutschland geltende Maßgabe (§ 16 Absatz 2 Arbeitszeitgesetz) hinaus, wonach bisher nur die über acht Stunden werktäglich hinausgehende Zeit aufzuzeichnen ist.
Die Erfurter Arbeitsrichter sehen nun allerdings keinerlei gesetzgeberischen Handlungsbedarf mehr. Vielmehr argumentieren sie, „bei unionsrechtskonformer Auslegung“ des Arbeitsschutzgesetzes seien Arbeitgeber bereits jetzt schon „gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen“; ausdrücklich beziehen sie sich auf Paragraf 3 Absatz 2 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes, wonach Arbeitgeber „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ haben, um Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten zu schützen.
Kein akuter Handlungsdruck
Was heißt das nun für die Praxis? Der Hamburger Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Dr. Artur Kühnel, von der Ärzte Zeitung um eine Einordnung gebeten, hat „eine gute und eine schlechte Nachricht“ für Arbeitgeber. Die gute: Die neue Pflicht zur Zeiterfassung, soweit sie über die bisher schon im Arbeitszeitgesetz verankerte Zeiterfassung hinausgeht, ist – solange keine Neuregelung erfolgt – nicht bußgeldbewehrt.
Die schlechte Nachricht: Mitarbeiter, insbesondere aber Betriebsräte dürften jetzt Druck machen und die Zeiterfassung einfordern, mit hohen Erfolgschancen. Auch bei Art und Weise der Zeiterfassung darf die Arbeitnehmervertretung laut einer früheren BAG-Entscheidung nämlich mitreden.
Zudem müssen Konzepte der Vertrauensarbeitszeit, die ja ausdrücklich keine Arbeitszeitkontrollen beinhalten, spätestens jetzt überdacht werden. Kühnel: „Es war zudem bisher schon möglich und wird jetzt erst recht möglich sein, dass Arbeitsschutzbehörden die Zeiterfassung von Arbeitgebern einfordern.“
Prinzipiell besteht also zunächst zwar kein übermäßiger Handlungsdruck. Früher oder später wird man an der neuen Zeiterfassung aber wohl nicht vorbeikommen. Wer jetzt schon Nägel mit Köpfen machen und eine systematische Zeiterfassung installieren will, etwa, so Anwalt Kühnel, „um Streitigkeiten mit der Belegschaft zu vermeiden oder auch ganz einfach aus pragmatischen Erwägungen“, der hat dafür breiten Spielraum.
Eine Vorgabe zur elektronischen Zeiterfassung habe der EuGH ebenso wenig gemacht, wie zu sonst einer bestimmten Aufzeichnungsform oder -technologie. Auch die Möglichkeit, dass Arbeitnehmer ihre Zeiten selbst aufschreiben, sei seiner Meinung nach nicht ausgeschlossen, versichert Kühnel.
„Objektiv, verlässlich, zugänglich“
Lediglich den vom EuGH geforderten Attributen sei zu genügen. Demnach müsse die Zeiterfassung „verlässlich, zugänglich und objektiv“ sein. Das beinhalte unter anderem revisionsfeste Einträge ebenso wie geeignete Kontrollmöglichkeiten der Arbeitgeber, ob die Zeiten auch tatsächlich erfasst werden; was aber nicht identisch mit einer Kontrolle der erfassten Zeiten sei, wie Kühnel erläutert.
Jedenfalls müssten Arbeitgeber „in der Lage sein, die Aufzeichnungen der Beschäftigten auch einmal einer Behörde oder einem Betriebsrat vorzulegen, selbst bei Vertrauensarbeitszeit“. Obgleich die Arbeitsaufsicht erfahrungsgemäß „ausgesprochen selten vorbeischaut“.
Fazit des Hamburger Arbeitsrechtlers: „Für Arbeitgeber, für die eine Zeiterfassung ohnehin bereits zum betrieblichen Alltag gehört, ist die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von geringem Interesse. Für manch andere Arbeitgeber jedoch unerfreulich.“ Das gelte insbesondere, „soweit sie Vertrauensarbeitszeit praktizieren, die auch schon bisherigen Vorgaben nicht unbedingt gerecht wird“.
Für Betriebsräte und Arbeitnehmer hingegen stelle die BAG-Entscheidung „eindeutig eine Verbesserung ihrer Rechtsposition bei der Zeiterfassung“ dar, die sich auch „über das Arbeitsschutzrecht hinaus auswirken dürfte“.
Denn die dem Arbeitsschutz dienende Zeiterfassung sage zwar noch nichts über die vergütungspflichtige Arbeitszeit aus. Doch ein unvermeidlicher Nebeneffekt der regelmäßigen Aufzeichnung werde gesteigerte Transparenz über die tatsächlich geleistete Arbeitsmenge sein. Kühnel: „Die Zeiterfassung wird es Arbeitnehmern erleichtern, einen Überstundenausgleich in Geld oder Freizeit geltend zu machen.“