AMBULANTE GERIATRIE-ZENTREN KÖNNTEN VERSORGUNG ÄLTERER MENSCHEN BESSER AUFSTELLEN
Die Alterung der Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Der Bundesverband Geriatrie versucht sich an einer strategischen Antwort der Versorgung. Die könnte Hausärzten die Arbeit erleichtern.
Die Alterung der Gesellschaft ist nicht zu übersehen. Die Zahl der Menschen im achten Lebensjahrzehnt ist zwischen 1990 und 2019 von acht auf 13 Millionen gewachsen. Mehr als sechs Millionen Menschen sind bereits über 80 Jahre alt. Ab den 2030er-Jahren wird die Zahl dieser Hochaltrigen kontinuierlich auf mehr als zehn Millionen wachsen, hat das Statistische Bundesamt erst im Juli festgestellt.
Die Kerze brennt an beiden Enden. Während sich die von Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) einberufene Krankenhaus-Kommission bereits eingehend mit den Versorgungsstrukturen der stationären Pädiatrie und der Geburtshilfe beschäftigt und mithin somit die Krankenhausreform eingeläutet hat, stehen Konzepte zur Versorgung hochaltriger Menschen nicht einmal auf der Tagesordnung dieser Kommission, zumindest nicht expressis verbis.
Selbst Babyboomer werden alt
Das heißt nicht, dass medizinische Fachgesellschaften, Kostenträger und Medizinischer Dienst das Thema nicht auf dem Zettel hätten. „Die demografische Entwicklung ist eindeutig“, sagt der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Geriatrie Dr. Michael Musolf, Chefarzt der Klinik für Geriatrie und Physikalische Medizin am Evangelischen Amalie Sieveking-Krankenhaus in Hamburg und Leiter der Geriatrie am Richard-Reme-Haus. Die Zahl der zu versorgenden Patienten steige mit der „Babyboomer-Entwicklung“. Und es gebe Krankheiten, die ohnehin erst im Alter auftauchen.
Die Anzahl von Ärzten, die auf dem Gebiet der Geriatrie besonders qualifiziert sind, wächst langsam, aber zumindest regional noch auf niedrigem Niveau. Der Abschlussbericht der Evaluation der Geriatrischen Institutsambulanzen zählt im Jahr 2020 gerade einmal 1180 Spezialisten unter den Vertragsärzten, alleine 532 davon in Rheinland-Pfalz und sechs im Flächenland Sachsen-Anhalt. Der Bundesverband Geriatrie warnt vor Fachkräftemangel auch in seiner Disziplin, sieht aber eine erfreuliche Zunahme von Ärzten mit geriatrischer Weiterbildungsexpertise. Etwa 3000 bis 4000 Ärzte könnten eine Weiterbildung in Geriatrie vorweisen.
Konzept aus der Altersmedizin
Wer ist der geriatrische Patient? Er ist 70 Jahre und älter und leidet unter der „geriatriespezifischen Multimorbidität“: Das seien nicht die typischen ICD-Diagnosen, die Ärzten einfielen, wenn man von Multimorbidität spreche, berichtet Musolf. Häufig handele es sich um Syndrome, zu denen die Inkontinenz in ihrer Komplexheit, chronische Schmerzen und Wunden wie Dekubiti, aber auch Fehl- und Mangelernährung, Immobilität, Seh- und Hörstörungen sowie die Auswirkungen von Mehrfachmedikation zählten.
Der Verband hat nun ein klares Konzept vorgelegt, um die geriatrische Versorgung auf die in den kommenden Jahrzehnten bevorstehenden Herausforderungen vorzubereiten. Es enthält Elemente von Bedarfsplanung ebenso wie prozessuale Mindestanforderungen. Und es berücksichtigt die zurückgehenden Arztzahlen in der Niederlassung auf dem Land bei gleichzeitig alternder Bevölkerung.
25 Kilometer: Weiter soll niemand bis zur nächsten geriatrischen Klinik fahren müssen, fordert der Bundesverband Geriatrie.
Eine Antwort der Altersmediziner auf den perspektivisch wachsenden Bedarf ist die klare definitorische Trennung von „Kliniken für Geriatrie“ und „Geriatrischen Rehabilitationskliniken“. Diese bereits vorhandenen Angebote sollen bundesweit einheitlichen Strukturvorgaben unterworfen werden.
Die Standardisierung soll nach der Vorstellung des Verbandes die Grundlage für eine regelhafte Planung geriatriespezifischer Versorgungskapazitäten, aber auch eine bessere Orientierung für die zuweisenden Ärzte schaffen.
Weiße Flecken der Versorgung
Für die bereits vorhandenen stationären Geriatrien hat der Bundesverband nun ein für Deutschland bislang einzigartiges Konzept entwickelt. In jedem Landkreis, den kreisfreien Städten und vergleichbaren Planungsgrößen in den Stadtstaaten soll für jeden Patienten eine Klinik für Geriatrie binnen 25 Minuten erreichbar werden, eine Einrichtung der geriatriespezifischen Rehabilitation binnen 45 Minuten.
Ein Fahrtzeitradius von 25 Minuten würde zusätzliche Kliniken erfordern. Das ist den Autoren des Konzepts bewusst. „Es gibt noch weiße Flecken in Deutschland“, sagen sie. Der Aufbau von Kapazitäten müsse allerdings nicht auf einen Schlag erfolgen, sondern könne im Zeitraum von fünf bis zehn Jahren erfolgen. Dazu treten weitere Kriterien der Kapazitätsplanung. In Krankenhäusern sollen nach den Vorstellungen des Verbandes mindestens 38 Geriatriebetten je 10 000 Einwohner über 70 Jahre vorgehalten werden, in den Einrichtungen der Rehabilitation zwölf Betten.
Angebot an Hausärzte
Die Autoren des Konzepts haben zudem Veränderungsbedarf in der teilstationären Versorgung erkannt. Das im Verband bereits konsentierte Konzept sieht vor, die bisherigen Tageskliniken, ambulante Rehabilitationseinrichtungen, mobile geriatrische Einrichtungen und Geriatrische Institutsambulanzen, die über die Kassenärztlichen Vereinigungen abrechnen, organisatorisch und medizinisch-inhaltlich zu Ambulanten Geriatrischen Zentren (AGZ) zu verschmelzen.
„Die heute getrennten Leistungen werden so zu einer neuen komplexen und integrativen Leistungsart zusammengeführt, so dass zukünftig bedarfsbezogen die verschiedenen Inhalte der einzelnen Versorgungsleistungen frei kombiniert werden können,“ sagt der Geschäftsführer des Bundesverbands Geriatrie Dirk van der Heuvel dazu.
Kleine Stellschrauben mit wahrscheinlich großen Effekten
Die AGZ wollen die Altersmediziner ausdrücklich auch als Angebot an die Hausärzte verstanden wissen. Zwar könnten Hausärzte bereits heute Patienten direkt in die Rehabilitation überweisen. Die gesetzliche Grundlage dafür ist das Intensivpflege-und Rehabilitationsstärkungsgesetz (PReG) von 2020.
Aber das integrierte Angebot würde ihm die Entscheidung, den Patienten entweder in eine stationäre oder eine ambulante Reha-Maßnahme zu überweisen, ersparen. Er könnte stattdessen die neue, flexiblere Versorgungseinheit anbieten. „Das sind kleine Stellschrauben, aber wahrscheinlich welche mit großen Effekten“, schätzt van der Heuvel.
Plan für die Geriatrie
Die AGZ sind ein „innovatives Tool, das wir der Politik anbieten, um stärker in die Richtung ambulant vor stationär und statt stationär denken zu können“, sagt Michael Musolf. Diese Vorarbeiten des Bundesverbands Geriatrie klingen nach einer Steilvorlage für die Lauterbach’sche Krankenhauskommission.
Das Wort Geriatrie kommt in deren Auftrag zwar nicht vor. Aber dort wird bekannt sein, dass die Alterung der Gesellschaft die Krankenhausinfrastruktur in Zukunft stark belasten wird. Dass die mit dem medizinischen Fortschritt einhergehende Ambulantisierung für manches klassisches Krankenhaus eine Neuorientierung erfordern wird, gilt als ausgemacht.
Die Kommission soll ausweislich ihres Auftrages schließlich die einheitliche Definition von Versorgungsstufen sowie Aspekte wie die Erreichbarkeit im Blick behalten – und die demografische Entwicklung für die Krankenhausplanung.