ÄRZTLICHE BEHANDLUNGSFEHLER: WER SOLL WAS WIE BEWEISEN?
Ist das Patientenrechtegesetz in puncto Behandlungsfehler nur ein Papiertiger? Aus Sicht von Patientenschützern ist das zu bejahen. Für Ärzte kommt dagegen eine Beweislastumkehr nicht in Frage. Die Berliner Ampel-Koalition wagt die Quadratur des Kreises.
Die Verteilung der Beweislast entscheidet nach Ansicht vieler Juristen in puncto Behandlungsfehler in aller Regel darüber, wer den Prozess gewinnt. Nach dem Patientenrechtegesetz muss der Patient die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung des Behandelnden für seinen Gesundheitsschaden nach dem strengen Beweismaß des Paragrafen 286 ZPO beweisen (Vollbeweis). Daher fordert unter anderem der Sozialverband Deutschlands Nachbesserungen am Patientenrechtegesetz.
Auf Ärzteseite gibt es heftige Vorbehalte gegen solch ein Ansinnen. Der Präsident der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt zum Beispiel lehnt eine grundsätzliche Umkehr der Beweislast in Arzthaftungsfällen ab. „Bei komplexen medizinischen Zusammenhängen einfach generell und nicht nur bei hinzukommenden Begleitumständen zu unterstellen, ein unerwünschtes Behandlungsereignis sei Folge eines Behandlungsfehlers, ist aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar“, sagte Reinhardt beim 7. Kölner Medizinrechtstag „Patientenrechtegesetz 2.0?“. Sonst drohe eine Entwicklung in Richtung Defensivmedizin wie etwa in den USA.
SPD, Grüne und FDP haben in ihren Koalitionsvertrag auch die Stärkung der Patientenrechte aufgenommen. Dort heißt es: „Bei Behandlungsfehlern stärken wir die Stellung der Patientinnen und Patienten im bestehenden Haftungssystem. Ein Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen wird eingeführt.“
Die Folge einer Beweislastumkehr wäre nach Einschätzung Reinhardts, dass auch dort Schadenersatzansprüche angenommen werden, wo es gar keinen Kausalzusammenhang zwischen Behandlung und Schädigung des Patienten oder der Patientin gibt. „Ärzte müssten also zukünftig erst einmal Beweis führen, um ungerechtfertigte Schadenersatzansprüche abzuwehren.“ Der Dokumentationsaufwand würde noch größer, es bliebe noch weniger Zeit für das Gespräch mit den Patienten, prognostizierte er.
Natürlich trügen Ärztinnen und Ärzte persönliche Verantwortung für ihr medizinisches Handeln. „Aber qua Gesetz verpflichtet zu werden, gegen gegebenenfalls in Zukunft erhobene ungerechtfertigte Ansprüche Beweis zu führen, halte ich für einen Irrweg“, so der BÄK-Präsident.
Patientenrechte seien integraler Bestandteil jeder Behandlung. „Es besteht kein Widerspruch zwischen Patientenrechten und ärztlicher Behandlung“, betonte er. Gleichzeitig sei es richtig, dass Patientinnen und Patienten nach Fehlern angemessen entschädigt würden. Aber: „Wenn die Sorge vor der Beweislast so stark ausgeprägt wird, dass ich alles protokolliere und mir die Zeit genommen wird, mich empathisch um die Patienten zu kümmern, dann kippt das Thema Patientenrechte.“
Fehlerprävention muss in den Fokus
Reinhardt hält es für falsch, dass bei der Diskussion über Patientenrechte vor allem auf Behandlungsfehler und Schadenersatz fokussiert wird. Auch der Aspekt der Fehlervermeidung müsse in den Blick genommen werden, ein Patientenrechtegesetz 2.0 sollte deshalb früher ansetzen. Dazu gehören für ihn auch besserer betriebliche Rahmenbedingungen. „Völlige Überlastung wegen Personalmangels, fehlende Zeit für Patienten wegen bürokratischen Aufwands oder unausgereifte IT-Infrastruktur – all das befördert Fehler und nicht ihre Vermeidung.“
Reinhardt hält es für sinnvoll, dass Ärzte verpflichtet sind, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. „Das schützt nicht nur uns, sondern sichert auch die Patienten ab.“ Dass die Niedergelassenen jetzt aber auch den Abschluss einer Police nicht nur gegenüber der Ärztekammer, sondern auch gegenüber dem Zulassungsausschuss nachweisen müssen, kann er nicht nachvollziehen. Die dafür in Paragraf 95e Sozialgesetzbuch V (SGB V) geforderte Versicherungssumme beträgt drei Millionen Euro.
Es sei unklar, ob diese Summe auch ausreiche, um die Versicherungspflicht nach der Berufsordnung vollständig zu erfüllen, so Reinhardt. Es könnte sein, dass unter Umständen ein höherer Versicherungsschutz oder höhere Summen nötig wären. „Besser wäre es hier, es bei einer Versicherungspflicht zu belassen – bürokratieärmer allemal.“
Höhere Haftpflichtprämien befürchtet
Die Einführung des Patientenrechtegesetzes 2013 schlägt sich in den Zahlungen der Arzthaftpflichtversicherer bislang offensichtlich nicht nieder. Die Versicherungsleistungen für schwere Personenschäden sind in der Branche von 2003 bis 2020 im Schnitt um vier Prozent pro Jahr gestiegen und haben sich von 1,3 Millionen Euro in 2003 auf 2,6 Millionen Euro in 2020 verdoppelt, berichtete Jörg Kieker, Vorstandsmitglied der Deutschen Ärzteversicherung. „Aus der Einführung ergeben sich keine signifikanten Veränderungen der Versicherungsleistungen.“ Aber: „Mit der gewollten Stärkung der Stellung von Patienten könnte sich das andern.“ So könnte eine Verschärfung der Beweislast für die behandelnden Ärzte dazu führen, dass die Versicherer mehr leisten müssen als bisher. „Es werden wohl mehr Schäden gemeldet und reguliert“, prognostizierte er.
Der steigende Schadenaufwand der Versicherer brächte zwangsläufig höhere Prämien in der Arzthaftpflicht mit sich. Kieker sieht die Gefahr, dass dann Ärzte die Tätigkeit in bestimmten Fachrichtungen in Frage stellen könnten, wie es bereits in der Geburtshilfe der Fall gewesen sei. Bei den Hebammen habe die Haftpflichtproblematik zu einer Einschränkung des Angebots geführt.
Vertrauensverhältnis in Gefahr
„Steigende Prämien können von den Leistungserbringern nur getragen werden, wenn die Entlohnung adäquat ist“, sagte er. Das wiederum führe zu höheren Ausgaben für ärztliche Behandlungen und in der Folge zu höheren Krankenversicherungsbeiträgen oder Leistungseinschränkung. „Auch eine Schädigung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist nicht auszuschließen.“
Die Regelungen des Patientenrechtegesetzes sind aus Sicht der Deutschen Ärzteversicherung angemessen. Das schließe allerdings nicht aus, dass es in Einzelfällen Probleme geben könnte. Wichtig sei es, die mittel- und langfristigen Folgen eines Patientenrechtegesetzes 2.0 im Blick zu haben, warnte Kieker. „Können Behandler ihren Beruf überhaupt noch angstfrei ausüben?“
Patientenrechte: Defizitäre Umsetzung
Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Stefan Schwartze sieht dagegen gesetzgeberischen Nachbesserungsbedarf, beispielsweise beim Einsichtsrecht der Patienten in Behandlungsunterlagen oder auch beim Umgang der Ärzteschaft mit Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL). Den rechtlichen Vorgaben werde in großem Umfang nicht nachgekommen, betonte er. „Wir haben keinen Mangel an Patientenrechten, wir haben ein Umsetzungsdefizit.“ Seine Rede wurde von Rainer Sbrzesny von der Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten vorgelesen – Schwartze selbst musste an einer Bundestagsabstimmung teilnehmen.
Er fordert in Arzthaftungsfällen eine Absenkung des Umfangs der Beweislast für die Patienten. Das hätte auch einen präventiven Charakter, erwartet Schwartze. „Es hilft allen, wenn eine erleichterte Beweisführung vor Gericht dazu führt, dass mehr Anstrengungen zur Fehlervermeidung gemacht werden.“ Der Patientenbeauftragte hält die verpflichtende Einrichtung von Fehlermeldesystemen wie den Critical Incident Reporting Systems (CIRS) für notwendig. „Es kann nicht sein, dass einzelne Krankenhäuser ihre CIRS-Systeme wieder abschalten, weil daraus ein Organisationsversagen abgeleitet werden könnte.“
Insbesondere die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahrzehnten ein effektives Patientenschutzrecht geschaffen.
Professor Christian Katzenmeier, Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln
Die Patientenrechte seien hierzulande im internationalen Vergleich hochentwickelt, sagte der Direktor des Instituts für Medizinrecht der Universität zu Köln Professor Christian Katzenmeier. „Insbesondere die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahrzehnten ein effektives Patientenschutzrecht geschaffen.“ Er erteilte Vorschlägen eine Absage, von einer Kausalität zwischen einem Behandlungsfehler und der Verletzung von Leben, Körper oder Gesundheit bereits dann auszugehen, wenn es dafür eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gibt. Wahrscheinlichkeiten könnten in der Regel nur in groben Werten, nicht aber mit mathematischer Genauigkeit ermittelt werden. Das würde zu Unsicherheiten in der richterlichen Sachverhaltsfeststellung führen.
„Eine Verpflichtung des Arztes zum Ersatz von Schäden, die er nicht sicher, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verursacht hat, könnte zu einer Ausuferung der materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen führen“, so Katzenmeier. „In letzter Konsequenz zielt das Konzept der Wahrscheinlichkeitshaftung auf eine grundsätzliche Umgestaltung des Haftungssystems.“ Genau dies wolle die Ampelkoalition laut Koalitionsvertrag aber nicht.
Klagerecht für Patientenbeauftragten?
Professor Stephan Rixen, Direktor des Instituts für Staatsrechts der Universität zu Köln, plädierte dafür, die Patientenrechte innerhalb des Sozialrechts zu stärken. „Das Patientenrechtegesetz 1.0 ist aus Sicht des Sozialrechts nicht der richtig große Wurf“, sagte er. Sinnvoll wäre seiner Meinung nach die Stärkung der Wunsch- und Wahlrechte der Versicherten. „Es ist mehr Vertrauen nötig“, findet Rixen.
Als eine Möglichkeit, Patienten und Patientinnen zu schützen, sieht er die Stärkung des Verbandsklagerechts. Der Patientenbeauftragte brauche mehr Befugnisse. „Wir sollten überlegen, ob es nicht denkbar wäre, dass er formalisierte Vetorechte oder Klagerechte bekommt.“